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Fleißig und produktiv – das ist das, was Deutsche bestimmt gerne über sich gelesen und gehört haben. Wie aber steht es heute tatsächlich mit der Arbeitsmoral? Ist Deutschland etwa fauler als früher?

Ich bin kürzlich über diverse Artikel gestoßen, in der es um die scheinbar mittlerweile schlechte Arbeitsmoral in Deutschland geht. Wesentliche Argumente gingen meist folgendermaßen:

Wenn es um die Durchschnittliche jährliche Arbeitszeiten geht, ist Deutschland im Vergleich mit OECD-Ländern Schlusslicht. Und auch der Trend scheint nicht besonders gut zu sein. Seit den letzten 30 Jahren wird in Deutschland durchschnittlich immer weniger gearbeitet.

Auch die unproduktiven Tage, welche durch Krankheit verloren gehen, sind seit Mitte der 2000er durchschnittlich angestiegen. Im Jahr 2023 waren es durchschnittlich 15 Tage, die Arbeitende aufgrund von Krankheit nicht arbeitsfähig war. Ist Deutschland damit buchstäblich, der kranke Mann Europas?

So weit das pessimistische Bild in Deutschland! Aber steht es wirklich so schlecht um die Arbeitsmoral? Haben die Deutschen etwa ihren berühmten Fleiß verloren? Oder zeigen die Daten ein verzerrtes Bild und das Narrativ müsste eigentlich anders lauten?

Warum brauchen wir überhaupt mehr Arbeitsstunden?

Warum ist unsere geleistete Arbeit überhaupt so wichtig? Im Grunde geht die logische Reihenfolge vereinfacht meist folgendermaßen:

Für Wohlstand im ökonomischen Sinne, benötigt es Arbeitsleistung, die eine Gesellschaft durch Erbringung von Dienstleistungen oder Produktion von Gütern erbringt. Höherer Wohlstand bedeutet mehr Einkommen für die Privathaushalte. Heißt, aber auch umgedreht wie es das IW Köln oder RND schreiben:

Weniger Arbeit bedeutet, dass weniger Güter hergestellt und Dienstleistungen angeboten werden. Also weniger Konsum, aber auch weniger Geld für die Umverteilung, das Rentensystem und auch die Wirtschaft.

Und jetzt heißt es, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird – also der Wohlstand in Gefahr ist?

In Deutschland wird – im Vergleich mit den übrigen OECD-Ländern – durchschnittlich am wenigsten pro Jahr gearbeitet. Auch im Vergleich mit den EU-Ländern sieht es nicht viel besser aus.

In der EU wird durchschnittlich rund 1570 Stunden pro Jahr gearbeitet. Dennoch sind es in Deutschland 15 % weniger als im EU-Durchschnitt. Deutschland ist damit immer noch Schlusslicht. Spitzenreiter ist übrigens Griechenland mit durchschnittlich fast 1900 Stunden pro Jahr.

Auch die Entwicklung der letzten 30 Jahre sieht für Deutschland nicht besonders vorteilhaft aus. Deutschland hat heute über 15 % weniger durchschnittliche Arbeitszeit pro Jahr als noch vor 30 Jahren.

Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern steht Deutschland also nicht besonders gut da, was die Arbeitsstunden betrifft.

Aber ist es wirklich so einfach? Oder gibt es vielleicht noch andere Faktoren, die solche Resultate hervorbringen?

Wie sieht die Realität aus – geht die Arbeitsmoral in Deutschland verloren?

Teilzeitquote

Ein wichtiger Faktor von Durchschnittswerten – und damit auch bei den jährlichen Arbeitsstunden – ist die Grundgesamtheit. Die Grundgesamtheit der Beschäftigten setzt sich aus Vollzeit und Teilzeitbeschäftigten zusammen.

Beispiel:

  • 2x Personen 40h pro Woche = 40h durchschnittliche Wochenarbeitszeit
  • 2x Personen 40h + 1x Person Teilzeit bspw. 20h = 33h durchschnittliche Wochenarbeitszeit

Denn, KEINE Arbeit zählt nicht in die Berechnung

Fairerweise, die OECD weist auf die beschränkte Vergleichbarkeit der Daten zwischen verschiedenen Ländern hin. Wird das gerne überlesen?

In Deutschland steigt der Anteil der Teilzeitbeschäftigten seit 30 Jahren an. Im Jahr 2023 haben laut dem Statistischen Bundesamt 31 % der Angestellten in Teilzeit gearbeitet. In den 90ern waren es rund 15 %, bei gleichzeitig fast konstant gebliebener Vollzeitbeschäftigung. Im Vergleich mit anderen Ländern ist Deutschland damit an der Spitze, nur in den Niederlanden, der Schweiz und in Österreich gibt es in Europa noch höhere Teilzeitquoten als in Deutschland. Das europäische Mittel liegt bei unter 20 %.

Bedeutet: Die Teilzeitquote in Deutschland ist so hoch wie nie – und höher als in den meisten europäischen Ländern. Unter anderem deshalb scheint die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Deutschland im OECD Vergleich so niedrig.

Frauen-Arbeitsquote (Erwerbsquote Mann vs. Frau)

Ein wichtiger Teil der Teilzeitarbeitenden sind Frauen. In den letzten 30 Jahren ist der Anteil erwerbstätiger Frauen deutlich angestiegen. In den 90er Jahren waren rund 55 % der Frauen erwerbstätig, heute sind es dagegen mehr als 70 %.

Schaut man sich den geschlechterspezifischen Anteil an Teilzeitbeschäftigungen in Europa an, liegt Deutschland mit einem der höchsten Anteile an teilzeitbeschäftigten Frauen vorne. Fast 50 % der erwerbstätigen Frauen in Deutschland arbeiten in Teilzeit. Nur in den Niederlanden, der Schweiz und Österreich sind die Anteile noch höher.

Der EU-Durchschnitt liegt bei weniger als 30 %.

Man könnte dies als problematisch ansehen und argumentieren, dass die Teilzeitquote bei Männern insgesamt zu niedrig ist. Aber wenn es um produktive Arbeit im ökonomischen Sinne geht, ist es wichtig, dass insgesamt mehr Anteile der Bevölkerung – unabhängig vom Geschlecht – einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Arbeitsvolumen – wird mehr oder weniger gearbeitet?

Wir sehen deutlich: In den letzten 30 Jahren ist die absolute Anzahl der Menschen, die in Deutschland arbeiten, deutlich angestiegen – um fast 20 % seit Anfang der 1990er Jahre. Von rund 37 Millionen im Jahr 1990 auf fast 46 Millionen Personen im Jahr 2023.

Gleichzeitig nimmt die Anzahl der erwerbsfähigen Personen aufgrund der demografischen Entwicklung jedoch langsam, aber stetig ab.

Produktivität – wird effizient gearbeitet?

Die Realität ist also, dass seit 30 Jahren immer mehr gearbeitet wird. Also mehr Personen im erwerbsfähigen Alter arbeiten, unabhängig vom Geschlecht. Auch wenn die Summe der Arbeitsstunden, die jährlich geleistet werden, eher konstant geblieben sind.

Die Anzahl der Arbeitsstunden ist ja eine Sache, die Qualität der Arbeit eine andere: Also die produktive Arbeit in Euro je Zeiteinheit, die ja auch ein wichtiger Teil der Gleichung ist.

Auch wenn die durchschnittlich wöchentliche Arbeisstunden der Vollzeitbeschäftigten gesunken ist, muss sich das nicht unbedingt negativ auf unsere Produktivität auswirken.

Vor allem in mental anspruchsvollen Bürojobs, ist es kaum möglich 8 Stunden durchgängig effektiv zu arbeiten. Der Rest der Zeit wird beispielsweise mit Pausen, Kaffee, Gesprächen gefüllt – die zwar auch wichtig für andere Ansichten und Perspektiven sein können, die wir wiederum für unsere Arbeitsergebnisse brauchen können.

Aber dennoch, wenn wir 2 Stunden länger arbeiten, heißt das nicht unbedingt, dass diese Zeit effektiv genutzt wird – und 2h mehr Produktivität herausquetscht wird.

Realität ist, dass die Produktivität je Erwerbstätigenstunde in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist.

Und auch im internationalen Vergleich ist Deutschland eher führend bezüglich Produktivität in Bruttoinlandsprodukt je Arbeitsstunde. Im Vergleich mit anderen EU Ländern hat beispielsweise nur Norwegen eine ähnlich niedrige jährliche durchschnittliche Arbeitszeit, aber gleichzeitig eine höhere Produktivität – also erreicht ein höheres BIP je geleistete Arbeitszeit.

Bedeutet zusammengefasst: In Deutschland wird heutzutage mindestens genauso gut oder sogar effizienter gearbeitet – und nicht andersrum.

Fazit

Zum Schluss noch ein paar allgemeine Gedanken zum Thema: Auch wenn die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Deutschland seit Jahren sinkt, sind auch andere Faktoren dafür verantwortlich. Und diese Faktoren werfen nicht nur ein negatives Bild auf die Arbeitsmoral in Deutschland.

Es ist deshalb wichtig, genau hinzuschauen, zu hinterfragen und sich nicht nur auf einfache Durchschnittswerte zu verlassen.

Plus, noch ein etwas anderer Blickwinkel – auch wenn es nur ein subjektives, anekdotisches Gefühl ist: Es scheint, als würden die Leute sogar eher mehr arbeiten als früher. Dabei sollten jedoch zwei wichtige Einschränkungen beachtet werden:

  1. Ich befinde mich möglicherweise in einem Alter, in dem die maximale Leistung und Karriere angestrebt wird.
  2. Vor allem im akademischen Umfeld, wo häufig außertarifliche Verträge oder Vertrauensarbeitszeit üblich sind, wird tendenziell mehr als die vertraglich festgelegte Wochenarbeitszeit gearbeitet.

Fairerweise, das Verhältnis von Zeit zu Leistung oder was wirklich nötig ist an Arbeitszeit, lässt sich nur schwer messen. Denn nur weil jemand davon berichtet, dass er bis 19 oder 20 Uhr im Büro ist, bedeutet das nicht, dass er produktiv arbeitet. Stichwort: Absitzen vs. produktives Arbeiten – in der Realität ist das alles nur schwer messbar.

Wie auch immer die Daten zur Arbeitszeitrealität aussehen mögen, laut einer Auswertung des IW Köln besteht in weiten Teilen der Bevölkerung anscheinend der Wunsch nach weniger Arbeitszeit, sprich nach mehr Freizeit.


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Anmerkungen & Quellen


Daten und Informationen, Stand: 10.05.2024

Titelbild: Priscilla Du Preez auf Unsplash